Hermann Josef Mispelbaum                                                                 November 2000
zu den Arbeiten von Karin Thiel :


                                                 "Die Farbe unter der Farbe"

Karin Thiel malt ihre Bilder nicht mit dem Pinsel, sondern sie bevorzugt die Technik des Farb-Spachtels.

So fand die 1944 Geborene erst später zur Malerei. Bei Professor Dieter Crumbiegel studierte sie diese. Wenngleich dessen Einfluss noch leicht spürbar, ist Karin Thiel längst auf dem Weg, ihre eigene, bildnerische Sprache zu entwickeln und zu finden. So kann man sie im weitesten Sinne als Autodidaktin bezeichnen.

Ihre Arbeiten der letzten Jahre bewegen sich im Bereich der Abstraktion und finden ihren Ursprung in der informellen Malerei.

Also, Karin Thiel malt in ihren Bildern keine Stilleben, noch benutzt sie die Welt, die Wirklichkeit, um diese abbildhaft darzustellen. Deshalb nennt sie konsequent aus ihrem Tun heraus ihre Arbeiten "Farb-Realitäten".

Mit dieser Überschreibung verdeutlicht sie uns ihr künstlerisches Anliegen, klammert Annekdotisches aus und setzt auf die freien Kräfte der Farben.

In ihrem Malprozess trägt sie die Öl-Farbe mit dem Spachtel direkt und unmittelbar auf den Acryl-grundierten Bildträger. So erhält sie der Farbe ihre ureigenste Wirkung und schafft eine gleichzeitige Materialität im Bild.

In diesen Arbeiten findet und bestimmt die Farbe die Form.

Ihre Bilder weisen meist zwei Ebenen auf. Der zurückgenommene, diffuse Farbraum, über den sich der zweite in materieller Verdichtung ergießt, in gleichzeitiger Auflösung und Verkrustung. So entstehen Raum und Tiefe. Das Auge kann suchend eindringen.

Farbe wird eingeengt, Farbe setzt sich frei, Farbe erstarrt zur Materie, Farbe schafft fließend Transparenz.

Die Vertiefungen, Furchen und Poren lassen unterlegte Farbpigmente immer wieder erahnen, oft eingefangen von überdeckten Schichten und Vermischungen versuchen sie durch- und auszubrechen. Eine innere Bildspannung wird erzeugt.

Diese Farb-Überlagerungen bilden häufig körperhafte Architekturen oder aber sie lösen sich auf in die Unendlichkeiten des nicht zu bestimmenden Raumes, bilden wiederum versuchte Ordnung in Rasterungen, schwebend oder erdhaft gebunden.

So treffen sie zusammen im direkten Vollzug des sinnlichen Malens, in spontanen Formulierungen: die Qualität, die Quantität, das Gewicht der Farbe, ihr Kalt und Warm.

Hinzu kommen bei Karin Thiels Arbeiten, als zusätzlich und bewusst eingesetztes Gestaltungselement, die feingegliederten Farblinien und –balken.

Diese vermitteln erneut Spannung, teilen und ordnen, geben dem Auge im Bild Halt, lassen es verweilen und durchbrechen die Flut der gespachtelten Farbstrukturen. So kann man sagen, diese Raumzeichen zügeln das Chaos der Farbschichten und sie vermessen im stillen Auftrag den bildnerischen Vorgang.

Wohltuend assoziiert sich hierdurch der gestalterische Wille, Raum zu erzeugen.

Wiederum ordnet Karin Thiel Formate gleicher Größe übereinander oder untereinander zu einem gesamten Bildkomplex an. Die Malerei kann so bildnerisch übergreifend, in Korrespondenz zueinander, eben monumentaler im Geiste, ausgebreitet und bewegt werden. Also ist es die Malerei selber, die die Künstlerin motiviert. Die Malerei ist das Motiv, auch immer noch im Experiment.

Diese Arbeiten sind eine Gradwanderung und ihre stärkste und wahreste Kraft liegt immer da, wo der Versuch gelingt, einen vordergründigen Ästhetizismus zu durchbrechen.

Karin Thiel ist auf dem Weg !



November 2000                              Hermann Josef Mispelbaum